Obere Mühle (Novelle Teil 2)

(Es waren die warnenden Stimmen der Männer, die eilends vom Tobeleingang im oberen Teil des Dorfes zurückkehrten, wo vor wenigen Wochen eine neue steinerne Brücke gebaut worden war. )

Das hölzerne Baugerüst der Brücke war noch nicht einmal entfernt worden. Und da wurde Susanna mit einem Schlag klar, dass die unermessliche Wassermenge, die vom Tobelbach hinabgetragen wurde und viel zu gewaltig für das enge Bachbett war, sich gerade jetzt wohl vor der neuen Brücke aufstauen musste. In diesem Moment gewahrte sie, dass ihr Vater daran war, ihre weinenden Geschwisterchen und ihre Mutter auf eine nahegelegene Anhöhe zu führen. Angsterfüllt rief Susanna ihn um Hilfe, doch der Vater versicherte ihr, er habe sie nicht vergessen und werde sie holen kommen, sobald die Jüngeren in Sicherheit seien. Zittrig stand Susanna am Fenster und sah hinüber zum Amtshaus, dessen Herrschaft eilends flüchtete. Als sie aber genauer hinsah, erkannte sie, dass die ihr bekannte Bedienstete im Amtshaus blieb und nicht flüchtete. Susanna schnappte nach Luft und beobachtete angstvoll, wie diese tapfere Frau erst zum Herd lief, um das Feuer auszumachen und dann zum Stall eilte, um eine Kuh herauszuführen. Erst als sie all dies getan hatte, floh auch sie vor dem Unwetter. Panik überkam die furchtsame Susanna und sie fragte sich, wo ihr Vater denn nur bliebe. In diesem Moment hörte sie, wie die neue Brücke mit einem fürchterlichen Krachen in sich zusammenbrach und die Wassermassen ins Dorf hineinströmten. Sie sah mit Schrecken, wie alle Strassen und Wege überschwemmt wurden, wie die Tür eines Hauses unweit der Brücke eingedrückt wurde. Es handelte sich dabei um das Dreifamilienhaus von Bernhard Kuser, Rudolf Hardmeyer und Conrad Fenner. Susanna gewahrte, wie eine unbezähmbare Wasserflut den ganzen Wohnbereich der Familie Kuser überfiel, das Wasser stieg so hoch an, dass sich niemand dort mehr retten konnte. Tränen nässten das Gesicht Susannas, als sie annehmen musste, dass das brave Ehepaar und die immerzu freundlichen Kinder in den Fluten umgekommen waren. Die 16 jährige Magdalena, die Susanna immer als Vorbild angesehen hatte, Dorothea, Anna, Anna Barbara, Margaretha, Elisabetha und der kleine Leonhard waren auf diese grausame Weise aus dem Leben gerissen worden. Vom Wohnbereich der Familie Hardmeyer war inzwischen auch kein menschliches Geräusch mehr vernehmbar. Einzig von den beiden Töchtern der Fenners und deren Eltern konnte Susanna entfernte Rufe hören. Sie trotzten heldenhaft dem Wasser, aber wie das Dreifamilienhaus in sich zusammenstürzte, verhallten diese Schreie auch. In dem Augenblick wurde Susanna klar, dass alle Tapferkeit, aller Mut, innere Stärke, Entschlossenheit und alle Kühnheit, die nicht wenigen von den braven Küsnachter Bürgern innewohnten, in einer solchen Situation vergebens waren, und sie begann jämmerlich zu schluchzen. Bestürzt beobachtete sie die Trümmer, die von den zusammengebrochenen, steinernen und hölzernen Brücken und von den Häusern durch Küsnachts Strassen geschwemmt wurden.

Plötzlich entdeckte Susanna eine Gestalt, die sich an einem vorbeischwimmenden Balken mit aller Kraft festklammerte. Ein Schimmer von Hoffnung überkam sie, als sie erkannte, dass es sich um die Mutter Fenner handelte. Als würde sich alles zum Guten wenden, vernahm Susanna in diesem Augenblick auch die vertraute Stimme ihres Vaters, der ihren Namen rief. Hoffnungsvoll schrie Susanna so laut ihr feines Stimmorgan es vermochte, doch die Hoffnung war zu früh zurückgekehrt. Über die Fluten hinweg brüllte ihr der Vater zu, dass das Wasser den Weg zum Haus versperrt habe und eine Rettung unmöglich sei. Die angsterfüllte Stimme des Vaters ermahnte sie, Trost in der Religion zu finden und sich dem göttlichen Willen des Höchsten zu ergeben, und danach ging die Stimme des Vaters im Tosen des Wassers unter.

Susanna gewahrte mit Schrecken, wie das Wasser in diesem Moment den Friedhof überflutete, die Särge aus der einen Ecke wurden alle weggeschwemmt, Skelette kamen wieder an die Oberfläche und Schädel strömten durch Küsnachts Strassen. Ein Bild des Grauens prägte sich in Susannas Kopf ein, das Wasser war inzwischen 20 Schuh hoch gestiegen.

Susanna sah den Küsnachter Kirchturm, der gerade neunmal schlug, und sie dachte an den Herrn, der dies alles zugelassen hatte. Der liebe Gott hatte so über Küsnacht gerichtet zur Abschreckung, zur Warnung, damit die Überlebenden ihr Leben besserten. Der Herr wollte, dass die Menschen ihr Leben und ihren Lebenswandel änderten, dies war seine Forderung, die Laster und niederträchtigen Gewohnheiten sollten sie ablegen. Es war eine Prüfung für die Nachbarn, ob sie auch den Mut hätten, dem Dorfe hier zu helfen, ob sie auch Mitleid mit Küsnacht empfinden würden, und wenn sie dies täten, so würde der Herr sie vor ähnlichem Unglück verschonen.

Von draussen hörte Susanna, wie laute Stimmen das Elend, das Küsnacht nun offenbar heimgesucht hatte, in Worte zu fassen versuchten. Die Bürger riefen einander durch die Dunkelheit zu, was alles verwüstet worden sei. Wenn sie recht gezählt hätten, seien es 15 Behausungen, meinte eine Stimme von draussen, und eine weitere ergänzte „Und die untere Mühle!“ Darauf antwortete eine optimistischere Stimme: „Gottlob dass die Obere Mühle, dieses längliche hellgelbe Gebäude mit den dunkelgrünen Fensterläden nicht überflutet wurde!“ doch die restlichen Stimmen achteten nicht auf diese Aussage und zählten weiter auf: „8 Scheunen“- „4 Trotten“- „7 Werkstätte, darunter 3 Holzsägemühlen und die Büchsenschmiede“- „Jaja, und 6 Waschhäuser“, schluchzte eine Frauenstimme, „Wenn ich recht mitgezählt habe sind es 3 Schöpfe“, wurde weiter aufgezählt. „6 Schweineställe und das ganze Metzgergebäude!“ „3 steinerne und 5 hölzerne Brücken wurden gänzlich weggerissen“ „Das Klostergebäude und das Amtshaus wurden sehr beschädigt“, schluchzte jemand in grösster Not. „Ich bin Waise geworden, und geschwisterlos auch!“, wimmerte eine Kinderstimme, worauf eine Männerstimme antwortete, er sei seinerseits zum kinderlosen Witwer geworden. Susanna lauschte, wie besorgte Stimmen sich um die Zukunft des wohlhabenden Dorfes Küsnacht kümmerten. Würde es bald ein verarmtes Bauerndörfchen sein? Eine Frauenstimme jammerte wie sehr sie ihr Küsnacht liebe, dieses wohlhabende Dorf, das sich immer mehr zu einer Stadt entwickle und von den Nachbardörfern gelobt und bewundert würde. Küsnacht sei eine volkreiche und angesehene Dorfschaft, die sich immer mehr von der bäuerlichen Arbeit, vom Feldbau entferne und sich dem Fortschrittlichen aus den Fabriken und dem Gewerbe der Stadt zuwende. Die wehklagende Frau konnte sich gar nicht ausmalen, wie grausam die Folgen dieses Unwetters für ihr Heimatsdorf sein würden.

Susanna hörte, wie die Fluten im eigenen Haus die Türen aufbrachen, in die Zimmer strömten und auch ihr Haus verwüsteten.

Susanna schloss die Augen und betete inniglich zu Gott, sie war bereit, ihre Seele in die Hände des Schöpfers zu legen.

Niemand- und am wenigsten Susanna selbst- hätte vermutet, dass sich der Sturm nach einer Stunde legen würde. Zwar war ihr Haus verwüstet, doch auf wundersame Weise hatte sie überlebt. In Windeseile strömten Hilfskräfte von allen Nachbardörfern heran, die Mutter Fenner wurde im Zürichsee im letzten Augenblick mit fürchterlichen Quetschungen aus dem See gefischt und sofort ins Spital nach Zürich gebracht, wo sie gesund wurde. Der Oberstleutnant Landolt stellte sich freiwillig für den Dienst in Küsnacht zur Verfügung und bildete arbeitstüchtige Abteilungen, in denen jeder Mann einen bestimmten Auftrag hatte. Als einige Tage nach dem Unglück die Glocken des Küsnachter Kirchturms läuteten, brachten die Horgener die Gegenstände, die von Küsnacht auf dem See weit seeaufwärts geschwommen waren und die Bewohner von anderen Seegemeinden liebevoll herausgefischt und trocknen lassen hatten, auf einem stattlich gebauten Floss aus Baumstämmen auf gleichem Wege wieder zurück.

Und nun, mein lieber Eduard, wunderst du dich sicherlich, weshalb ich dir eine solche Schreckensgeschichte gerade in diesem Augenblick erzähle. Doch höre aufmerksam, mein Junge, denn ich vertraue darauf, dass die tapferen Männer wie dein Vater mit genug Geschicklichkeit die Wasserfluten bändigen können. Ich bin sicher, dass schon morgen starke Männer aus den Nachbarsdörfern zu Hilfe nach Küsnacht eilen werden. Denn es kam zu Susannas Zeit Hilfe, und auch dieses Mal und jedes Mal wird Hilfe für Küsnacht kommen. Auch wenn die Lage so aussichtslos ist, wie sie damals für Susanna war.

Niemand konnte sich erklären, wie die alleingelassene Susanna dieses Hochwasser überlebte, es war tatsächlich ein Wunder. Auf rätselhafte Weise fand sie aber unversehrt zu ihrer Familie zurück, die dank des Vaters Rettung gesamthaft überlebt hatte. Unzählige Zürcher Gemeinden packten damals bei den Wiederaufbauarbeiten viele Tage vorbildlich mit an und dank dem pflegte Susanna, meine Grossmutter, ihr Leben lang zu sagen: „Die Prüfung vom lieben Gott hat zwar 63 Menschenleben gefordert, doch wir und unsere Nachbarn haben bewiesen, dass wir hilfsbereit, tüchtig und mit ganzem Herzen ans Werk gehen!“

Mit diesen Worten beendete Eduards Grossmutter ihre Geschichte und der Enkel, der vom Zuhören ganz müde geworden war, schlief auf der Stelle ein. Draussen versuchten zahlreiche tapfere Männer den Lauf der Fluten möglichst von den Häusern des Dorfes abzuwenden. Das Wasser wütete am nächsten Tag weiter, doch das Hotel Sonne bot trefflichen Schutz, und so überlebte fast das ganze Dorf diese zweite Sintflut.

 

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in der Gemeinde Küsnacht