Die Rache eines Brunnens (Tragödie)

 

Lochmann: „Hans! Du Trefflicher! Wohin des Weges? Immer sieht man dich von einem Ort zum nächsten hetzen, stets auf den Beinen! Dass du dir eine Pause gönnest, das hat wohl noch keiner gesehen! So bleibe doch ein bisschen stehen, du Tüchtiger, und plaudere ein wenig mit mir…“

Hans: „Meister Lochmann, es ist mir eine Freude, euch hier zu erblicken. Ich bin unterwegs, eure Dienste zu verrichten. Gerade wollte ich den Stapel Holz dort drüben hacken, damit ihr auch den ganzen Winter über genügend Brennholz habet. Doch wenn ihr wünschet, so verweile ich gerne.“

Lochmann: „Ach Hans, du ahnst ja nicht, wie dankbar ich bin, dich zu haben. So einen braven und mutigen Mann wie dich! Noch nie ist mir ein rechtschaffenerer Knecht unter die Augen gekommen. Wie du dieses Jahr wieder den ganzen Weinlesemonat lang nichts anderes getan hast, als die Traubenernte zu zerstampfen, ohne dass ich dich an diese Aufgabe hätte erinnern müssen! Und du endetest dein Tagwerk nicht ehe die Sonne unterging.“

Hans: „Seid bedankt, werter Herr, für dieses Lob, es freut mich, dass meine bescheidenen Fähigkeiten einem solchen Dienstherrn wie euch von Nutzen sein können. Ihr seid mir stets ein so gerechter und dankbarer Meister, dass ich mir keinen andern wünschen könnte!“

Lochmann: „In der Tat habe ich auch alle Gründe dankbar zu sein. Nicht werde ich vergessen, wie du mir die Tiere in den stürmischen Nächten des letzten Weidemonats jede Nacht wacker gefüttert hast, und wenn es draussen noch so tobte! Ich denke mir wohl, dass du diese Mannheit habest, weil du vom Brunner-Geschlecht bist…“

Hans: „Ei ja, die Brunner…von denen gibt’s ja viele hier zu Küsnacht, 18 an der Zahl, meine ich.“

Lochmann: „Durchaus, durchaus. Ihr Brunner seid, mal abgesehen von den Fennern, das meistverbreitete Geschlecht hier im Dorfe. Mir kam zu Ohren, dass das Geschlecht der Brunner in Zollikon, dem Dorfe nebenan, schon seit 1330 bezeugt ist. Aber bereits seit dem letzten Jahrhundert seid ihr in Küsnacht, habe ich vernommen, liege ich da richtig, Hans?“

Hans: „Nun, werter Herr, dass wir ursprünglich von Zollikon her kommen, meine ich auch gehört zu haben. Doch über die genauen Jahreszahlen weiss ich nicht Bescheid, verzeihet.“

Lochmann: „Ja Hans, Du Bescheidener, würdest ja niemals von selbst erzählen, dass anno 1614 ein Brunner zum ersten Mal das bedeutungsvolle Amt eines Küsnachter Untervogts bekleidet hat und die Brunner seitdem zu den einflussreichsten Geschlechtern der Gemeinde gehören.“

Hans: „Ach, Meister Lochmann, ich weiss ja nicht einmal genau, ob ich mit diesen Leuten verwandt bin. Aber genug von mir, Meister Lochmann, es ist euch ja anzusehen, etwas liegt euch auf der Leber… Gebet mir doch preis, um was es sich handelt!“

Lochmann: „Ja Hans, wie trefflich du mich einschätzen kannst, feinfühliger Bursche. Ein Vorfall, der am gestrigen Tag geschehen ist, bereitet mir Kummer. Ein Dorfgenosse hat meine Frau Liebste als Hexe und Hure bezeichnet!“

Hans: „Wie! Die gnädige Meisterin Lochmann! Unmöglich! Wer wagt es, sie derartig zu verleumden? Wohl weiss ich, dass die stolze Frau keinen Grund für eine derartige Beschimpfung gegeben haben könnte. Was für ein tumber “Rotzaff“ auf diese Weise foppt! Zum Henker mit diesem Mistkerl!“

Eine Gestalt nähert sich von weitem.

Lochmann: „Siehe da, Hans, da kommt der Teufelsgenosse schon. Der da drüben, der war’s!“

Hans: „Der dort, der so scheinheilig schlendert? Oh, den knöpfe ich mir vor. Einer, der die Würde eurer edlen Ehefrau verletzt, den kann kein redlicher Mann ungestraft davonkommen lassen. Eine Tracht Prügel hat dieser “Grindskopf“ verdient, und ich werde persönlich dafür sorgen, dass seine Worte gerächt werden. Macht euch keine Sorgen, gnädiger Meister.“

Lochmann: „Wackerer Hans, deine Anteilnahme weiss ich sehr zu schätzen. Doch dass du mir nicht die Verantwortlichkeit vergisst! Ich werde dich weiss Gott nicht daran erinnern müssen dass wir uns im Wandel der Zeit befinden und die Rache, die auf Ehrkränkungen folgt, sollte nun durch das Recht gebändigt wird. Rachenahme ist heutzutage keine obligate Pflicht mehr, sondern kann hart bestraft werden. Das Recht hat das letzte Wort, Hans.“

Hans: „Natürlich ist mir dies bekannt, edler Dienstherr. Ich bin ja selber im Zwist mit mir selbst, wo doch das Faustrecht nicht mehr gilt. In Küsnacht vollzieht sich ein sittlicher Wandel und der ritterliche Heldenmut wird heutzutage bestraft, eine mutige Rache gehört sich nicht mehr. Ich müsste eine solche Tat zweifellos büssen. Doch, gnädiger Herr, eine solche Beleidigung kann kein ehrlicher Mann auf sich sitzen lassen. Ach, ich ringe mit mir selbst! Und ei, was seh’ ich? Der Lasterbalg da kommt direkt auf uns zu! Nein, lasst mich, Meister, ich habe mich entschieden!

Holla, Dorfgenosse. Eben wurden mir deine frevelhaften Worte bekannt gemacht! Und nun komme ich, sie zu rächen! Hier hast du, was du verdienest…und hier noch einmal… du Schändlicher, was du dich getraust… Na, bereust du deine Worte?… Ja, so ist’s recht, du sollst nur spüren, welch Pein eine Ehrverletzung mit sich bringt!.. Hier noch ein letzter Schlag!“

Dorfgenosse: „Potz!… Du hast einen harten Schlag. Ich weiss nicht mal, ob ich jemals wieder aufrecht gehen kann! Doch sei gewiss, dies wird Folgen nach sich ziehen!“

Lochmann: „Hans, für deinen Mut bin ich dir wohl verbunden. Doch siehe, die Obervögte nähern sich schon.“

Obervögte: „Seid gegrüsst, ihr beiden. Wir haben Ungutes gesehen. Gekommen sind wir, um die Gerechtigkeit zu wahren. Hans Brunner, dir ist wohl bekannt, dass man keine Tracht Prügel verteilen darf.“

Hans: „Natürlich, Euer Ehren. Doch ich heische im Gegenzug darum, den Ankläger, der des Herrn Lochmanns Frau als Hure und Hexe beschimpfte, auch zu büssen.“

Obervögte: „Hans Brunner, deine Beherztheit ist bewundernswert. Deine wackere Kühnheit ist bis nach Zürich bekannt. Zweifelsohne wird der freche Ankläger rechtens büssen müssen. Doch bedarf es wohl keiner weiteren Explikationen, um zu rechtfertigen, dass wir uns der Gerechtigkeit halber gezwungen sehen, auch dich, den Rächer, zu büssen. Du sollest des Weiteren für die Arztkosten aufkommen, sowie dem Ankläger ein Schmerzensgeld zahlen.“

 

Weiter geht’s zum Boller-Haus.

in der Gemeinde Küsnacht