Ein Stein mit Ecken und Kanten

Es war einmal ein grosser, sorgenfreier Taveyannaz-Sandstein, der von seiner langen Reise müde war. Vom weit entfernten Glarnerland war er über 400 Jahre hinweg mit dem Linthgletscher gereist. Mit der Geschwindigkeit von 50cm pro Tag war der massige Stein getragen worden, es war während Spätwürmeiszeit und wenn der Stein ehrlich sein wollte, hatte ihn diese Reise schon ziemlich gewurmt. Deshalb war der träge Stein dankbar und froh, als er in Küsnacht einen Moränenwall fand, auf dem er verbleiben konnte. Er war ein anspruchsloser Genosse, und weil er mit seiner Position hier zufrieden war, beschloss er, für immer an dieser weitläufigen Stelle zu bleiben. Leider durchbrach am Ende der Eiszeit ein unruhiger, dynamischer Bach die hübsche Moräne, und grub sich so tief in die stille Ebene, wo der Stein friedlich ruhte, dass dieser immer tiefer in das neu entstandene, schattige Tobel hinabrutschte. Der Stein ärgerte sich zwar über diese Verschiebung, aber weil er im Grunde ein genügsames Wesen war, gab er sich bald mit dem etwas tiefer gelegenen Platz zufrieden und fand es hier, im neu gebildeten Tal, wo er die Fische bei ihrem Spiel im Bach beobachten konnte, bald so lauschig, dass er wiederum beschloss, diesen Ort nie mehr zu verlassen. Über 20’000 Jahre blieb der Findling standhaft auf seinem Platze liegen. Je weiter die Jahrtausende fortschritten, desto mehr lärmende Menschen kamen ihn besuchen, Kinder bestiegen seinen Rücken und der Stein fühlte sich buchstäblich angegriffen. Da es aber nicht zum gemächlichen Charakter des Steines passte, liess er sich nichts anmerken und liess sogar zu, dass die Leute ihn „Wöschhüsli-Stei“ nannten, weil seine Form sie anscheinend an ein Waschhaus erinnerte. Niemandem verriet der Stein, dass dieser Name ihn im Herzen tief verletzte. Was die Toleranz des Steines dann aber wirklich auf die Probe stellte, war ein junger „Naturforscher“ namens Alexander Wettstein, der in Küsnacht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, passend zum forschungsliebenden Zeitgeist, das ganze Tobel erforschte und auch ihn, den Stein, mit seinen knochigen Menschenhänden und seltsamen Geräten, die der Stein noch nie in seinem Leben gesehen hatte, abtastete. Erbarmungslos vermass dieser halbwüchsige Wicht den ganzen Umfang des Steines, der sich innerlich für sein Schwergewicht von 260 Tonnen schämte. Auf schonungsloseste Weise pickte dieser Wettstein herzlos ein Stück des Steines heraus, packte es in eine Tasche und murmelte mit einem selbstzufriedenen Lächeln: „Damit kann ich eine Analyse machen!“ Der Stein war zutiefst gedemütigt und hatte das Gefühl, man wolle ihm hier das Leben vermiesen. Als der Stein ein Ehepaar, das im Tobel seinen sonntäglichen Spaziergang machte, sagen hörte, dass der wissbegierige blutjunge Alexander Wettstein vor Kurzem bei einer Bergexpedition verunglückt sei, und zuhörte, wie die Frau diesen Alexander schluchzend pries, der es bestimmt noch weit gebracht hätte, tat dieser tragische Schicksalsschlag dem Stein nicht sehr leid. Ganz Küsnacht war aber offenbar zutiefst betrübt, so sehr, dass das Küsnachter Volk die Frechheit hatte, den Stein, ohne seine Erlaubnis, „Alexanderstein“ zu nennen und unverschämte Küsnachter Lümmel trugen diese neue Benennung in dauerhafter, weisser Farbe auf ihn auf. Der Stein wurde verbittert, und als rund 70 Jahre später entschieden wurde, dass man die weisse Schrift, die, wenn es der Stein richtig gehört hatte, über die Jahre hinweg nicht Bestand habe und nicht mehr gut leserlich sei, auf brutalste Art und Weise durch eine Bronzetafel ersetzen wolle, verschwand die Gutmütigkeit des Steines vollständig aus seinem Charakter und bitterer Groll war alles, was zurückblieb. Er war kantig und eckig und seine Oberfläche ganz rau. An jenem Tage, wo man die Bronzetafel bis in alle Ewigkeit an ihm befestigte, hatte der Stein beschlossen, aus Protest für immer und ewig an dieser Stelle zu verweilen.

Zum Schluss geht’s zum Schübelweiher.

in der Gemeinde Küsnacht